Der Verfassungsschutz soll die freiheitliche Demokratie schützen. Und indem er dies tut, kann er die freiheitliche Demokratie gefährden. Die Möglichkeit, dass der Schutz der Demokratie in ihre Gefährdung oder sogar in ihre massive Beeinträchtigung umschlägt, ist mit der Aufgabe des Verfassungsschutzes strukturell verbunden.

Das erste und wichtigste Strukturproblem wird schon erkennbar, wenn man sich den Unterschied von Staatsschutz und Verfassungsschutz vor Augen führt. Mit seiner Konzeption des Verfassungsschutzes geht Deutschland einen in der demokratischen Welt wohl ziemlich singulären Sonderweg. Inlandsgeheimdienste und Polizei beschränken sich üblicherweise darauf, den Staat gegen Umsturz, Putsch, Terrorismus – kurz: gegen politisch motivierte Gewalt – zu schützen. Sie beschränken sich also auf das, was als «Staatsschutz» bezeichnet wird. 

 

Gewalt oder Zwangsanwendung?

Die Aufgabe des Verfassungsschutzes geht über die Aufgabe des Staatsschutzes weit hinaus. Dem Verfassungsschutz geht es nicht nur darum, einen gewaltsamen Umsturz zu verhindern, sondern er soll verhindern, dass auf dem Wege demokratischer Wahlen Kräfte an die Macht kommen, die Demokratie und Rechtsstaat beseitigen wollen. 

Während der Staatsschutz vor undemokratischen Methoden der Machtergreifung schützt, schützt der Verfassungsschutz auch vor undemokratischen Zielen der Politik. Der Verfassungsschutz macht nicht nur politische Vorgehensweisen – Gewalt oder Zwangsanwendung – zu seinem Thema, sondern auch politische Inhalte, also Programme und Meinungen. Der Verfassungsschutz wendet sich gegen politische Bestrebungen, die sich ihrer politischen Ausrichtung nach gegen die -freiheitliche demokratische Grundordnung wenden. 

Dies hängt mit der deutschen Konzeption der «wehrhaften» oder «streitbaren Demokratie» zusammen: Den Feinden der freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie soll es unmöglich gemacht werden, mittels demokratischer Wahlen die Mehrheit zu gewinnen, um dann die fundamentalen Verfassungsprinzipien abzuschaffen. Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürdegarantie sind nach dem deutschen Grundgesetz unabänderlich, können also auch nicht mit verfassungsändernder Mehrheit beseitigt werden, und Parteien, die dies dennoch anstreben, können verboten werden. Zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes gehört daher auch der Schutz dieser – im Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammengefassten – Fundamentalprinzipien.

Diese Aufgabenstellung des Verfassungsschutzes steht in einem Spannungsverhältnis zu einem Grundprinzip der Demokratie, nämlich zur Freiheit der politischen Willensbildung. In der Demokratie muss die politische Willensbildung des Volkes frei sein. Der Staat ist nicht berechtigt, seinen Bürgern bestimmte Meinungen aufzuzwingen oder mit hoheitlichen Mitteln auf die politische Willensbildung einzuwirken. Die Verfassung garantiert die Freiheit des politischen Wettbewerbs im Meinungskampf und insbesondere unter den politischen Parteien. In diesen Wettbewerb darf der Staat sich prinzipiell nicht einmischen.

Die «streitbare Demokratie» macht aber dazu eine Ausnahme: Sofern es darum geht, zu verhindern, dass Feinde der Demokratie die Staatsgewalt übernehmen, um dann die Demokratie abzuschaffen, darf und muss der Staat den politischen Wettbewerb begrenzen. Gegen Verfassungsfeinde darf er – letztlich mit dem Mittel des Parteiverbots – einschreiten. Und schon vorher wirkt er mit Mitteln des Verfassungsschutzes auf die politische Willensbildung ein.

Der Verfassungsschutz analysiert und bewertet politische Meinungsäusserungen, und indem er dies tut, greift er in den politischen Meinungskampf ein – jedenfalls, wenn er seine Bewertungen der Öffentlichkeit mitteilt. Wird eine politische Partei vom Verfassungsschutz als «extremistisch» eingestuft, ist das für diese Partei ein massiver Nachteil im politischen Wettbewerb. Dies gilt schon dann, wenn sie zunächst nur als «Verdachtsfall» beobachtet wird. Eine solche Partei verliert Mitglieder, Wähler, Sponsoren. Ihre Chancen, neue Mitglieder zu werben, sinken drastisch. Sie wird in den Medien als extremistisch stigmatisiert. Man berichtet über ihre Aktivitäten nicht mehr neutral, sondern, wenn überhaupt, nur mit der Tendenz, die Bewertungen des Verfassungsschutzes zu verstärken. 

 

Wenn sie der Demokratie schaden . . .

Diese und weitere Wettbewerbsnachteile, die aus der verfassungsschutzamtlichen Bewertung als extremistisch, also als verfassungsfeindlich, resultieren, sind gewollt. Der Verfassungsschutz sieht seine Aufgabe nicht nur darin, die Regierung rechtzeitig über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu informieren, sondern er versteht sich selbst auch als Organ der Bekämpfung solcher Bestrebungen. 

Das Mittel der Bekämpfung ist die Öffentlichkeitsarbeit. Wenn der Verfassungsschutz eine Organisation oder eine Person als «extremistisch» bezeichnet, ist das eine öffentliche Stigmatisierung. Das Bundesverfassungsgericht hat die Einstufung einer Organisation als extremistisch im Verfassungsschutzbericht zutreffend als «negative Sanktion» bezeichnet.

Die Belastung mit dieser Sanktion, die amtliche Stigmatisierung als «extremistisch», wirft Probleme für die Rechtsstaatlichkeit und vor allem für die Demokratie auf. Warum das? Dient nicht die Anprangerung verfassungsfeindlicher Bestrebungen als extremistisch dem Schutz der Demokratie?

Man könnte diese Frage bejahen, wenn man sicher wäre, dass die Behauptungen und Bewertungen des Verfassungsschutzes richtig sind. Aber diese Sicherheit gibt es nicht. Und es gäbe sie selbst dann nicht, wenn man sicher sein könnte, dass der Verfassungsschutz sich nicht von der Regierung bewusst zur Bekämpfung oppositioneller Bestrebungen instrumentalisieren liesse. Denn die Bewertungen sind oft schwierig, und über die zugrundeliegenden Tatsachen gibt es oft nur Vermutungen.

Solange wir aber nicht sicher sein können, ob die Bewertungen des Verfassungsschutzes richtig sind, gibt es hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Demokratie immer zwei Möglichkeiten: Entweder die Bewertungen treffen zu; dann nützen sie der Demokratie. Oder sie treffen nicht zu; dann schaden sie der Demokratie. Wenn sie der Demokratie schaden, dann dürfte dieser Schaden fast immer um ein Vielfaches grösser sein als im umgekehrten Fall der Nutzen.

 

Gründe für die Fehleranfälligkeit

Warum kann es dazu kommen, dass der Verfassungsschutz falsche Extremismuswarnungen äussert? Mir geht es darum, auf strukturelle Umstände des geltenden Verfassungsschutzrechts und der gegenwärtigen Verfassungsschutzpraxis hinzuweisen, die ein erhebliches Risiko falscher Bewertungen in sich bergen, auch dann, wenn die Akteure im Prinzip nicht böswillig sind.

Ein Umstand ist die Verdachtsberichterstattung. Der Verfassungsschutz berichtet im Bund und in manchen Bundesländern in den Verfassungsschutzberichten und anderen Verlautbarungen nicht nur über Beobachtungsobjekte, die er für erwiesen verfassungsfeindlich hält, sondern auch über Verdachtsfälle. Dies ist meines Erachtens verfassungswidrig.  Mit der Verdachtsberichterstattung bekämpft der Verfassungsschutz Organisationen, von denen er noch gar nicht weiss, ob sie wirklich verfassungsfeindlich sind. Das ist ein schwerwiegender Grundrechtseingriff, der zur Abwehr einer Gefahr nicht erforderlich ist. Er lässt sich daher nicht rechtfertigen.

Der zweite Grund für die Fehleranfälligkeit von Extremismusverdikten des Verfas-sungsschutzes ist der Umstand, dass die Beweisführung meist hochkomplex ist. Die Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes – also die betroffenen politischen Parteien oder andere Organisationen – sagen ja in der Regel nicht, dass sie die Demokratie, den Rechtsstaat oder die Menschenwürdegarantie beseitigen wollen. Aus Sicht des Verfassungsschutzes tun sie das deshalb nicht, weil sie ihre wahre Zielsetzung verbergen wollen.

 Aber wie lässt sich die wahre Zielsetzung erkennen? Der Verfassungsschutz ermittelt sie anhand «tatsächlicher Anhaltspunkte». Das sind, wenn man in Programmen und offiziellen Verlautbarungen des Beobachtungsobjekts nichts findet, in der Regel Meinungsäusserungen von Funktionären und anderen Mitgliedern.

In vielen Fällen prangert der Verfassungsschutz Äusserungen an, die, für sich genommen, keine verfassungsfeindliche Zielsetzung zum Ausdruck bringen. Diese Zielsetzung wird dann einfach unterstellt. 

Das wichtigste Beispiel aus den letzten Jahren ist der ethnisch-kulturelle Volksbegriff. Der Verfassungsschutz behauptet, wer einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff verwendet, wer also insbesondere von einem deutschen Volk spricht, das nicht durch die Staatsangehörigkeit, sondern durch Merkmale wie Sprache, Kultur, Geschichte oder Abstammung definiert ist, der sei Rechtsextremist. Denn er wolle alle Menschen, die nicht zu dem so verstandenen Volk gehören, in menschenwürdewidriger Weise diskriminieren. Das aber ist nichts als eine unbegründete Unterstellung. 

 

Traditionelle Aufgabe des Kabaretts

Wie der Verfassungsschutz auf die politische Willensbildung einwirkt, ohne dass dies dem Schutz der Verfassung dient, zeigt sich auch am Beispiel des Themas, das die Verfassungsschutzbehörden «verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates» nennen. 

Das Argumentationsmuster des Verfassungsschutzes sieht etwa so aus: Wer die Institutionen des freiheitlichen Verfassungsstaates verächtlich mache, wolle ihnen die Legitimität bestreiten und auf diese Weise den Boden dafür bereiten, sie durch eine undemokratische, unfreiheitliche Ordnung zu ersetzen. Das sei eine verfassungsfeindliche, extremistische Zielsetzung.

In der Praxis sieht der Verfassungsschutz allerdings bereits die «Verächtlichmachung von und Agitation gegen demokratisch legitimierte Repräsentantinnen und Repräsentanten» als extremistische Delegitimierung an. Damit verschwimmt die Grenze zwischen dem Ziel, die Verfassung zu schützen, und dem Ziel, die Regierung gegen Kritik abzuschirmen. Mangels klarer Abgrenzungskriterien ist die Wahrscheinlichkeit ständiger Grenzüberschreitungen des Verfassungsschutzes hoch. 

Den Ton dafür hat die dem Verfassungsschutz übergeordnete Innenministerin angeschlagen, als sie sagte: «Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen.» Und der Staat, das ist natürlich in erster Linie die Regierung. Die Regierung zu verspotten, ist die traditionelle Aufgabe des Kabaretts. Und es ist ein demokratisches Grundrecht jedes Bürgers. 

Natürlich wird jetzt nicht jeder, der die Regierung kritisiert, im Verfassungsschutzbericht erscheinen. Aber er muss, jedenfalls wenn er grundsätzliche Kritik äussert, damit rechnen, dass das vom Verfassungsschutz notiert wird. Beispielsweise ist es als extremistisch eingeordnet worden, die Corona-Lockdown-Politik als «Corona-Diktatur» zu bezeichnen. Und der Verfassungsschutz hat bereits «Agitation gegen Klimaschutzmassnahmen» als neues Betätigungsfeld für «Delegitimierer» ausgemacht. Sogar Polemik gegen eine an der gegenwärtigen Koalitionsregierung beteiligte Partei ist vom Verfassungsschutz schon als Delegitimierung des Staates gewertet worden.

 

Chancengleichheit beschädigt

Damit wird die Grenze zwischen Verteidigung und Beschädigung der Demokratie deutlich überschritten. Mit seinen grossenteils unzutreffenden Bewertungen von Meinungsäusserungen als angebliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen übt der Verfassungsschutz Druck aus, derartige Meinungsäusserungen zu unterlassen. 

Die Wahrnehmung der grundrechtlich garantierten Meinungsfreiheit wird für den Einzelnen zum Risiko. Und da der Verfassungsschutz nur oppositionelle Meinungsäusserungen als «extremistisch» markiert, nie aber Äusserungen von Regierungsmitgliedern oder von Funktionären der Regierungsparteien, beschädigt er die Chancengleichheit unter den politischen Wettbewerbern. Diese ist eine der Grundlagen der Demokratie.

 

 

Professor Dr. Dietrich Murswiek war bis zu seiner Emeritierung Geschäftsführender Direktor des -Instituts für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg im Breisgau. Er ist Autor des Buches «Verfassungsschutz und Demokratie» (Duncker & Humboldt, 2020).

 

Dieser Text beruht auf einem Vortrag des Verfassers am Forum Verfassungspolitik zum Thema «Wehrhafte Demokratie – Recht und Wirklichkeit» in der Akademie für politische Bildung in Tutzing, 25. Oktober 2024.

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