Ein Mann im Kampf gegen die AfD: Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer sieht sich schweren Vorwürfen ausgesetzt und schweigt

Geheimnisverrat, autoritäre Amtsführung, Androhung körperlicher Gewalt: Medienrecherchen belasten den Chef des Thüringer Inlandgeheimdienstes. Doch wer ist der Mann an der Spitze der Behörde?

Oliver Maksan, Berlin 6 min
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Stephan Kramer ist seit 2015 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes.

Stephan Kramer ist seit 2015 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes.

Christian Ditsch / Imago

Um Wortmeldungen ist Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer sonst eigentlich nicht verlegen. Weit über die Grenzen des ostdeutschen Bundeslandes hinaus steht der 1968 in Nordrhein-Westfalen geborene Behördenleiter mit Thüringer Wurzeln als Gesprächspartner bereit. Ein Lokaljournalist nannte ihn deshalb einmal einen «bundesweiten Oberauskenner».

Dass ihn Medien gerne anfragen, überrascht nicht. Kramer formuliert schliesslich ohne die übliche Zurückhaltung höherer deutscher Beamter. Einem Fünftel der Deutschen attestierte er etwa, «brauner Bodensatz» zu sein, also wenigstens autoritären Denkmustern anzuhängen oder gar rechtsextrem zu sein. «Ich gehöre zum Klub der deutlichen Aussprache», sagte er über sich.

Kramer ist Mitglied der SPD

Wohl am häufigsten wird Kramer zur AfD befragt. Auch das verwundert nicht. In Thüringen wurde die Rechtspartei unter Kramers Führung schliesslich zum ersten Mal in Deutschland überhaupt als «gesichert extremistisch» eingestuft.

Auch die Verfahrensschritte dahin unternahm der Thüringer Inlandsgeheimdienst unter Kramers Ägide immer vor allen anderen Bundesländern. Und obwohl Kramer auf dem linken Auge nicht blind ist und immer wieder auch vor den Gefahren des Linksextremismus warnt, darf man den Kampf gegen die AfD als seine Mission bezeichnen. Kürzlich erst forderte er ein Verbotsverfahren gegen die Thüringer AfD, die aus der letzten Landtagswahl als stärkste Kraft hervorging. Diese warf Kramer daraufhin autoritäres und demokratiefeindliches Amtsverständnis vor.

Emotional unbeteiligt steht Kramer der AfD nicht gegenüber. Das hat er selbst deutlich gemacht. Sollte die Partei an einer Regierung beteiligt werden, würde er Deutschland noch am selben Tag mit seiner Familie verlassen, sagte er im vergangenen Jahr einem israelischen Sender. Kramer ist als Erwachsener zum Judentum konvertiert und war bis 2014 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, ehe er im Streit schied.

Nun steht dem Thüringer Landesverband der AfD mit Björn Höcke jemand vor, der im politischen Koordinatensystem der rechten AfD als rechter Flügelmann bezeichnet werden kann. Dass die Verfassungsschutzbehörden dort noch vor allen anderen genauer hinschauten, mag deshalb verständlich sein.

Kramer hat den Vorwürfen bis anhin nicht widersprochen

Ob es dabei freilich mit rechten Dingen zugegangen ist oder ob Belastungseifer zuungunsten der Partei leitend war, dazu schweigt der sonst so beredte Behördenchef seit Wochenbeginn beharrlich. Da erhob das in Berlin ansässige Internetportal «Apollo News» eine ganze Reihe schwerer Vorwürfe gegen ihn. Nicht alles davon ist neu. Der NZZ liegt das Kramer belastende Material zudem nur in Teilen vor. Unabhängig verifizieren lässt es sich nicht. Unter Verweis auf Quellenschutz will «Apollo News» bestimmtes Material zudem nicht herausgeben. Überregionale Medien haben die Recherche bisher kaum aufgegriffen – wahrscheinlich auch, weil das Portal als aktivistisch gilt. Das Magazin «Cicero» kam indes zu ähnlichen Schlüssen.

In der Summe zeichnet die Recherche von «Apollo News» das Bild eines Mannes, der den Kampf gegen die AfD zur Chefsache gemacht hat – und sich vom im vornherein feststehenden Ziel von nichts und niemandem abbringen lassen will, auch nicht von rechtlichen Bedenken. Und wer es doch versucht, dem soll Kramer gar körperliche Gewalt angedroht haben. Bis anhin hat Kramer der ihn schwer belastenden Verdachtsberichterstattung nicht widersprochen.

2018 wird die AfD rechtswidrig zum Prüffall erklärt

2018 erklärte der Thüringer Verfassungsschutz unter Kramer die AfD zum sogenannten Prüffall. Bei der eigens für die Partei geschaffenen Kategorie handelt es sich um eine Untersuchung aufgrund des Anfangsverdachts, dass sie möglicherweise verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Staatsanwälte sprächen von Vorermittlungen. Statt auf die Expertise seiner Mitarbeiter in der zuständigen Abteilung zurückzugreifen, soll Kramer in Eigenregie falsche oder wenigstens ungenaue Informationen als Belege angeführt haben, warum die Partei einer vertieften Betrachtung durch den Geheimdienst wert sei.

Dass er dies öffentlich nicht hätte tun dürfen, stellte das Verwaltungsgericht Weimar nach einer Klage der AfD schon 2021 fest. Die öffentliche Bekanntgabe stellte aus Sicht des Gerichts eine Einschränkung der politischen Chancengleichheit zu Ungunsten der AfD dar. Vor allem fehlte eine Rechtsgrundlage dafür. Ein Mitarbeiter soll ihn 2018 genau davor gewarnt haben.

Neu ist dieser Teil der Recherche nicht. 2019 berichtete die «Thüringer Allgemeine» darüber. Nach Informationen des Regionalblattes stritten Kramer und der damalige Referatsleiter für Rechtsextremismus monatelang über Zuständigkeiten und Vorgehen.

Kramer soll einen Mitarbeiter bedroht haben

Neu sind allerdings die Vorwürfe rund um die Einstufung der AfD als «gesichert extremistisch» im Jahr 2021. Kramer soll dabei laut «Apollo News» nämlich untersagt haben, ein Ergänzungsgutachten zu berücksichtigen. Dieses meldete Bedenken an, ob die Aussagen zulasten der AfD rechtlich haltbar sein würden. Die Thüringer Verfassung sichert Abgeordneten nämlich zu, dass sie nur vom Parlament für Aussagen belangt werden können und von niemandem sonst, auch nicht vom Verfassungsschutz. Dieser «Indemnität» genannte Schutz soll ihre Unabhängigkeit sichern.

Wenn der Verfassungsschutz also Aussagen von AfD-Abgeordneten wie Höcke als Beleg dafür anführt, dass die Partei verfassungsfeindlich sei, muss er sicher sein, dass sie diese nicht als Abgeordnete geäussert haben. Andernfalls ist die Verwendung unzulässig.

Gemäss «Apollo News» soll dem Autor des Gutachtens, der diese Bedenken geltend machte, von Kramer zudem körperliche Gewalt angedroht worden sein. Offenbar war er mit dem Arbeitseinsatz des Mitarbeiters unzufrieden. Jedenfalls soll eine entsprechende Beschwerde bei Kramers vorgesetzter Behörde, dem Thüringer Innenministerium, eingelegt worden sein. Ausgang unbekannt. Die «Thüringer Allgemeine» will Informationen haben, dass dieser Vorwurf im Verfassungsschutz selbst nie bekannt geworden ist. Das muss freilich nicht dagegen sprechen, dass er erhoben wurde. Welcher Art die angebliche körperliche Drohung gewesen sein soll, lässt der Text offen.

Das Innenministerium sah Hinweise auf Dienstvergehen

Fast noch schwerer wiegt ein anderer von «Apollo News» verbreiteter Vorwurf, weil er Kramer nicht nur allgemein als Vorgesetzten, sondern ganz speziell als Geheimdienstchef disqualifizieren würde, träfe er zu. In dem Beitrag wird nämlich ein Disziplinarverfahren erwähnt, das gegen Kramer beim Innenministerium unter anderem wegen Geheimnisverrats eingeleitet worden sein soll. Vom Verdacht eines möglichen schweren Dienstvergehens und Sicherheitsrisikos sei intern die Rede gewesen.

Am Anfang stand wohl ein unzufriedener Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Der soll 2018 zwei Journalisten des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) ein verfängliches Foto seines Chefs präsentiert haben. Das seit 2019 öffentlich kursierende Foto zeigt Kramer vor seinem Amtsantritt 2015 bei einem Treffen mit als extremistisch geltenden Putin-nahen Rockern, den «Nachtwölfen». Das Treffen soll vom Verfassungsschutz überwacht worden sein. Kramer räumte später ein, dass die Teilnahme ein Fehler gewesen sei. Darüber sei aber bereits bei der Sicherheitsüberprüfung vor seiner Berufung 2015 gesprochen worden.

Entscheidend ist aber, dass die beiden Journalisten Kramer laut «Apollo News» darüber informiert haben sollen, dass sich sein Mitarbeiter ihnen anvertraut habe. Sie lieferten ihren Informanten gewissermassen ans Messer. Der MDR hat mittlerweile angekündigt, dass er diesem Vorwurf des schwerwiegenden Verstosses gegen den Quellenschutz nachgehen will. Kramer wiederum, und dies war Gegenstand des Disziplinarverfahrens, soll mit den Journalisten über seine Sicht der Dinge auf das Innenleben seines Hauses und den Mitarbeiter gesprochen haben – also Geheimnisverrat betrieben haben. Belegt sein soll dies durch Chat-Verläufe, die die NZZ aber nicht einsehen konnte.

Laut «Thüringer Allgemeiner» wurde das Disziplinarverfahren gegen Kramer allerdings genauso eingestellt wie das gegen seinen Mitarbeiter. Warum das Innenministerium die Sache für erledigt betrachtete, ist nicht bekannt.

Die AfD sieht den «tiefen Staat» am Werk

Auf Anfrage der NZZ verwies das SPD-geführte Ressort darauf, dass es sich zu Personalfragen nicht öffentlich äussere. Es stellte allerdings klar, dass die gesetzlichen Regelungen des Beamten- und Disziplinarrechts grundsätzlich eingehalten würden. Kramer selbst war für die NZZ nicht zu erreichen.

Die AfD freilich will sich damit nicht zufriedengeben. Sie will einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Aus ihrer Sicht ist ein «tiefer Staat» am Werk, der Missstände vertuscht. Am Freitag beschäftigte sich auf ihren Antrag hin zudem der Thüringer Landtag in einer aktuellen Stunde mit den Vorwürfen gegen Kramer. Einen Erkenntnisgewinn, ob die Vorwürfe gegen Kramer zutreffen, falsch sind oder sich längst erledigt haben, brachte die Debatte nicht.

Es sieht derweil nicht danach aus, dass sich der alte und neue Thüringer Innenminister Georg Maier von Kramer trennen will. Beide gehören der SPD an. Kramer war früher auch einmal Mitglied der FDP. An Kramers aktivistischer Amtsführung hat der Minister schon bisher keinen Anstoss genommen. Und an der Tatsache, dass der von seinem Vorgänger berufene Kramer als Sozialpädagoge eigentlich gar nicht über die geforderte juristische Qualifikation verfügt, auch nicht.