Berlin

Zum Jahresbeginn lieferte die stellvertretende Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt eine Beschreibung der Bundesrepublik, die ziemlich genau dem Selbstbild der politisch-medialen Klasse entspricht: «Deutschland», so die grüne Spitzenpolitikerin, «ist ein Land, in dem eine offene Gesellschaft wohnt.» Was im Subtext heisst, ringsum wohnt sie nach Ansicht massgeblicher Grössen des Berliner Betriebs nicht, und zwar: nicht mehr. Die Vertreter von Grünen, SPD und selbst etliche Köpfe der CDU sehen sich zusammen mit Journalisten der wohlmeinenden Medien als Verteidiger einer Festung, über der noch die Fahne der Diversität, der Transformation und des grenzenlosen westlichen Schuldbewusstseins weht, mit anderen Worten: der Progressivität.

 

Springteufel Musk

Als die Fahne vor Jahren aufgepflanzt wurde, sah man sich noch weitgehend unter Gleichgesinnten, wobei Deutschlands Progressisten sich in typischer Bescheidenheit als Vorreiter empfanden. Heute sieht die wohlgesinnte Truppe von der Zinne herab rundum nur noch Feindesland. Das beginnt ganz in der Nähe: In Ă–sterreich fĂĽhrt kaum noch etwas an einer Regierung unter einem Bundeskanzler Herbert Kickl vorbei. Beim Nachbarn Niederlande amtiert ein Mitte-rechts-Kabinett, in Italien, dem Herzensland vieler Deutscher, gehört Giorgia Meloni zu den wenigen Mitgliedern der europäischen Politikerriege mit guten Wiederwahlaussichten. 

Im Norden exekutiert die dänische Sozialdemokratin Mette Frederiksen eine Migrationspolitik, wie sie in Deutschland nur die verfemte AfD vertritt; Schwedens Energieministerin rĂĽffelt den grössten Kanzlerkandidaten aller Zeiten, Robert Habeck, fĂĽr dessen stabilitätsgefährdende Energiepolitik. Die USA gelten seit der Wahl Donald Trumps sowieso in toto als Feindesland, was einen politisch-medial-kulturellen Komplex besonders schmerzt, der kaum noch eigene Ideen hervorbringt, sondern sich seit Jahren bis zu sprachlichen Lächerlichkeiten an die FĂĽhrungsmacht anlehnt. Und jetzt springteufelt auch noch Trumps Intimus Elon Musk aus praktisch jedem deutschen X-Account, um im Alleingang die Brandmauer rund um die AfD einzureissen. 

Genau betrachtet, hält dieses innere Festungsbollwerk den etablierten Politik- und Medienapparat der Nach-Merkel-Bundesrepublik ĂĽberhaupt noch zusammen. Das fĂĽhrt zu schwer angescheuerten Nervensträngen an der Spree. Man möchte die Fahne natĂĽrlich weiter hochhalten, denn die deutsche Devise lautet bekanntlich: «Jetzt erst recht». Gleichzeitig bemerkt man die eigene Einsamkeit. Kippt demnächst auch noch Frankreich, sieht es wirklich sehr dĂĽster aus. 

Sämtliche Parolen und Behauptungen dieses Apparats stammen aus einer Ära, die es weltweit nicht mehr gibt – nur noch in der Insellage Deutschland. In kaum einem anderen westlichen Land ähneln politische und mediale Würdenträger einander so stark in Sprache, Gesinnungsausrichtung und Weltanschauung. Ihre Formel lautet, in den Worten von Robert Habeck: «Wir sind ganz wesentlich das Land, das wir uns sagen, das wir sein wollen.»

Auf beiden Seiten dominieren intellektuell selbstgenĂĽgsame Gestalten. So wie Göring-Eckardt und Habeck reden auch viele Talk-Meisterinnen und Chefredakteure. Der selbstgestrickte Kokon, in den sich dieses Milieu einkuschelt, besteht aus zwei Teilen: erstens aus der Ăśberzeugung, dass Deutschland mit seiner Migrations-, Energie- und sonstigen Politik ein strahlendes Beispiel fĂĽr Welt abgibt. Und zweitens daraus, dass draussen eigentlich nur Feinde lauern, wenigstens aber Dummköpfe oder schwererziehbare MiterdenbĂĽrger. Dass beide Annahmen nicht so recht zueinander passen, fällt nur Leuten auf, die nicht selbst in diesem Kokon stecken. 

Wer die deutsche Presse liest, erfährt dort zwar wenig bis nichts ĂĽber die Welt, aber alles ĂĽber das Deutschland auf dem höchsten Burgsöller der Festung Berlin. KĂĽrzlich berichtete die SĂĽddeutsche Zeitung ĂĽber den Ausbau der Kernenergie in China und kommentierte: «Dabei handelt es sich eigentlich um eine Technologie der Vergangenheit.» Das glaubt man in diesen sehr deutschen Selbstbestätigungsrunden tatsächlich. Aber eben auch nur dort. 

 

Wie können sie nur?

Ein Journalist, der schon für fast alle grossen deutschen Medien gearbeitet hat und deshalb als idealer Durchschnitt gelten kann, fragte kurz vor der US-Wahl, wie gebildete Amerikaner – er geht immerhin davon aus, dass es überhaupt so etwas gibt – ernsthaft Trump wählen könnten. Der Witz besteht darin: Er interessiert sich keine Sekunde lang für eine Antwort. Beziehungsweise: Er kennt sie schon. Sie sind eben nicht so gut und klug wie wir. Wie können sie nur – im Grunde lassen sich alle deutschen Kommentare zum Weltgeschehen so zusammenfassen –, wie können sie nur Atomkraftwerke bauen, Verbrennerautos nicht verbieten und Migration dafür begrenzen wollen?

Von Trump zeichnen die allermeisten deutschen Medien und Politiker das Bild eines Vollzeit-Irren. Musk, erklärte kĂĽrzlich die Redakteurin einer grösseren Zeitung ihren Lesern, habe die «Impulskontrolle eines dreijährigen Kindes». Angenommen, es käme jemand von aussen, um diesen zusammengesponnenen Kokon zu zerschneiden, dann mĂĽsste er sagen: Jemand mit der Impulskontrolle eines Kindes baut nicht mehrere Multimilliardenunternehmen auf. Ein Irrer schafft es nicht zweimal ins Weisse Haus. Wenn mehr als die halbe Welt auf Kernkraft setzt, sollte man unterstellen, dass es gute GrĂĽnde dafĂĽr gibt. Und niemand, wirklich niemand weltweit hält Deutschlands industriellen Abstieg fĂĽr ein Erfolgsmodell und seine Politiker fĂĽr besonders vorausschauend. 

Jemand, der so reden wĂĽrde, käme in diesen inzestuösen Kreis allerdings gar nicht erst hinein. Er gälte dort als innerer Feind, der mit dem äusseren paktiert. Vor zehn und selbst vor fĂĽnf Jahren lag das Scheitern der deutschen Politik auf den Gebieten Migration, Energie und Wirtschaft noch nicht ganz so offensichtlich zutage wie heute. So etwas wie ein Realitätsabgleich fand in der Provinz Berlin-Mitte aus den oben geschilderten GrĂĽnden bis heute nicht statt. Im Gegenteil: Dort schwört man sich unter dem Druck der unfreundlichen Umgebung wechselseitig darauf ein, die Illusionsfestung bis zur letzten Platzpatrone zu halten. 

 

Dunkelflaute, Hellbrise

Darin liegt nun einmal das Hauptproblem der Festungsgarnison: Wer sich dazu entschliesst, die Stellung gegen die anbrandende Realität zu verteidigen, sollte auch ĂĽber die Mittel dazu verfĂĽgen. «Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen», riet Gottfried Benn, ein Autor, den die meisten Bescheidwissenschaftler von Berlin aus Prinzip verschmähen. 

Bei einer Bestandsinventur gibt es nicht viel zu zählen: In keinem Industrieland lahmt die Wirtschaft so stark wie in Deutschland. Militärisch steht die Bundeswehr heute keinen Deut besser da als vor der scholzschen Zeitenwende. In der Dunkelflaute hofft die immer noch grösste Industriemacht Europas, dass die umliegenden Staaten ausreichend Strom liefern. Und in der sogenannten Hellbrise – Achtung, jetzt wird es ein bisschen technisch – hängt das Habeck-Reich davon ab, dass die Nachbarn dabei helfen, die weder benötigten noch speicherbaren EnergieĂĽberschĂĽsse schnell genug in ihre Netze aufzunehmen, also zu entsorgen. Das Verhältnis Deutschlands zu seiner Umgebung lässt sich mit dem berĂĽhmten Satz Karl Valentins zusammenfassen: «Merken Sie sich eins: Sie sind nicht abhängig von mir, aber ich bin es von Ihnen!» 

Um in dem Burgbild zu bleiben: Vor deren Mauer in der eigenen Unterstadt fällt immer mehr Leuten auf, dass die Welt etwas anders aussieht, als es ihnen die Festungsbesatzung tagtäglich in die Ohren bläst. Sie spĂĽren die weltweiten Veränderungen, und sie fragen sich, ob die Gegner, Spinner und Verstockten wirklich dort draussen lauern – und nicht vielmehr ein paar Etagen ĂĽber ihnen. Sie zweifeln an der Erzählung, dass sich Deutschland gegen die weltweite Wende hin zum Realitätsprinzip stemmen sollte – und erkennen vor allem, dass es dafĂĽr ĂĽberhaupt nicht die Mittel besitzt. 

 

Paria am Ballhausplatz

Musk mag nicht viel von deutscher Innenpolitik verstehen. Aber er setzt jenseits aller Details an der strategisch entscheidenden Stelle an, wenn er sich mit den unzufriedenen Deutschen und ihrer parteipolitischen Stimme verbĂĽndet, der AfD. Wie schnell es gehen kann, lässt sich beim Nachbarn Ă–sterreich studieren. Ohne das Brandmauergerede hätte die Ă–VP dort vor ein paar Wochen womöglich noch eine Koalition mit einem Vizekanzler Kickl bilden können. Jetzt zieht der Paria selbst am Ballhausplatz ein. Eine Mitte bis rechts wählende Mehrheit in Ă–sterreich wollte eben nicht die nächste halblinke Regierung. 

Deutschland ist nicht, wie die Festungsoberen meinen, «Vorreiter» der Welt, sondern Nachzügler. In Deutschland schaut der politisch-mediale Komplex eigentlich schon mit angstgeweiteten Augen auf die Wahlen 2029. Dann könnten die geistigen Altbauten auch in Berlin endgültig einstürzen. Anderswo sind sie schon Geschichte.

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