Das Rechtsstaatsprinzip gehört zu den fundamentalen Grundsätzen einer jeden freiheitlichen Verfassungsordnung, so auch im Grundgesetz gemäss Artikel 20, 28.

Rechtsstaatlichkeit bedeutet Bindung aller staatlichen Gewalt an Gesetz und Verfassung, Schutz von Freiheit und Menschenrechten sowie auch effektiver Rechtsschutz für den Bürger durch eine unabhängige Justiz. Unabhängige Justiz heisst, Richter müssen persönlich und sachlich unabhängig sein. Deshalb werden sie in der Regel (ausgenommen Verfassungsrichter mit zwölfjähriger Amtszeit) auf Lebenszeit ernannt. Dies alles bedeutet aber nicht, dass das Rechtsschutzsystem in ein System quasi-politischer Rechtsetzung umschlagen darf. Indessen, schon hier mehren sich die kritischen Symptome.

Richter neigen immer häufiger dazu, auch ihrerseits mehr oder weniger autonom eigenes Recht zu setzen. Im Rahmen der Gewähr von Rechtsschutz ist natürlich auch ein Stück legitimer Rechtsfortbildung mitenthalten. Aber dies bedeutet nicht, dass Richter ihrerseits autonom Recht setzen dürfen. Ein besonders dramatisches Gegenbeispiel bildet die Rechtsprechung des EuGH, der jenseits aller europäischen Vorschriften sich ausdrücklich anmasst, auch selbst Europarecht zu schaffen.

Aber auch im nationalen Bereich wachsen die Probleme. So beispielsweise im Kontext der seinerzeitigen Corona-Epidemie, wo eine Fülle von Verwaltungsgerichten sich in absolut unverhältnismässiger Weise über Freiheitsrechte hinweggesetzt hat. Ähnliches gilt beispielsweise für den Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021.

Noch dramatischer sind viele Entwicklungen im Asylrecht. Wenn Richter dort sich über gesetzliche Abschieberegelungen mitunter beliebig hinwegsetzen, verletzt dies Recht und Verfassung. Ein weiteres dramatisches Beispiel findet sich in der wachsenden Zurückdrängung des Grundrechts der Meinungsfreiheit, obwohl die Meinungsfreiheit gemäss Artikel 5 Grundgesetz zu den schlechthin konstituierenden Grundelementen des Demokratieprinzips gehört. Hier werden immer häufiger Meinungsäusserungen wie etwa die von der angeblichen «Delegitimierung des Staates» gerichtlich verfolgt. Nahezu absurd sind dabei auch unverhältnismässige Hausdurchsuchungen. Hier wird nicht nur Artikel 5 Grundgesetz, sondern auch das Recht auf freie Wohnung gemäss Artikel 13 Grundgesetz verletzt. Dass bei alledem der Verfassungsschutz eine hochproblematische Rolle spielt, sei nur am Rande erwähnt.

Das Rechtsschutzsystem untersteht im Rechtsstaat dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Gewaltenteilung bedeutet, dass die Justiz defensiv-rechtssichernd bleibt, also nicht in eine offensiv-rechtsschaffende Staatsfunktion umschlagen darf. Wenn dies nicht beachtet wird, droht die Erosion des gesamten Rechtsstaats. Eben diese Gefahr ist jedoch inzwischen vielfältig virulent geworden.

Richter haben immer politische Neutralität zu wahren. Je mehr dies jedoch vergessen wird, desto näher und eher droht die Politisierung der Justiz insgesamt. Der kürzliche Streit um die Besetzung zwei Richterstellen am Bundesverfassungsgericht mit zwei hoch ideologisch tätigen Persönlichkeiten hat dies in aller Deutlichkeit gezeigt. Politisierte Justiz ist keine rechtsstaatliche Justiz. Richter sind keine Politiker, sondern allein rechtlich gebundene Schützer des Rechts. Rechtsstaatliche Justiz bedeutet auch effektive Justiz.

Dem Bürger muss gerade beim Schutz seiner Grundrechte ein effektiver gerichtlicher Schutz garantiert sein. Schon hier mehren sich indessen auch kritische Entwicklungen. Dies beginnt mit dem massiven Verfahrensstau in allen Gerichtsbarkeiten und reicht sogar in das Strafrecht hinein. Gerade das Strafrecht ist für den Schutz des Bürgers unverzichtbar. Wenn jedoch Strafanzeigen und Strafverfahren inzwischen fast millionenfach nicht mehr wirksam verfolgt werden, droht das Vertrauen der Bürger in ihren Rechtsstaat verlorenzugehen.

Noch einmal zurück zur Meinungsfreiheit: Hier werden sogar Meinungsäusserungen unterhalb der Grenze des Strafrechts mitunter gerichtlich verfolgt, obwohl Artikel 5 Grundgesetz erst das Strafrecht als Grenze der Meinungsfreiheit eröffnet. Also: Das Strafrecht als eine Grundkomponente des Rechtsstaats sieht sich in zweierlei Richtung in gefährlicher Weise tangiert.

Natürlich leidet auch die Justiz heute unter Personalmangel. Dieser rechtfertigt kritische und gefährliche Entwicklungen der vorstehend genannten Art jedoch in keiner Weise. Der Rechtsstaat braucht unabhängige und kompetente Richter, aber er darf nicht umschlagen in einen Richterstaat. Alles gegenläufige würde auch gegen das Demokratieprinzip verstossen. Die Bewahrung unseres Rechtsstaates bleibt eine unverzichtbare Grundaufgabe unserer Verfassung, und dem gilt es sich Tag für Tag zu stellen.

Rupert Scholz ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitglied der CDU und war Bundesminister der Verteidigung unter Kanzler Kohl.

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