Während die Nato gerade ihre Verteidigungsfähigkeit gegen Russland massiv hochfährt, bereitet sich Deutschland auf eine neue Rolle vor – als logistische Drehscheibe im Ernstfall. Munition, Soldaten und Kriegsgerät sollen durch die Republik rollen und an die Ostfront transportiert werden. Im Ernstfall sollen auch Verwundete und Flüchtlinge zurückgebracht werden. All dies ist Teil des sogenannten Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU), einem Geheimplan der Bundeswehr, der im Januar 2025 fertiggestellt wurde und von dem bislang nur wenige Details bekannt sind.
Der Berliner Abgeordnete Alexander King vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wollte wissen, was dieser Plan konkret für die Hauptstadt Berlin bedeutet. Er stellte umfangreiche schriftliche Anfragen an den Senat – und erhielt Antworten, die der Berliner Zeitung nun exklusiv vorliegen.
Berlin im Fokus des Geheimplans
Der Operationsplan Deutschland ist ein geheimes, ständig fortgeschriebenes Dokument der Bundeswehr. Er regelt nicht nur Truppen- und Materialbewegungen, sondern auch die Einbindung ziviler Strukturen – von Krankenhäusern über Verkehrsinfrastruktur bis hin zu Hilfsorganisationen. Berlin spielt dabei eine Schlüsselrolle: als Bundeshauptstadt, Verkehrsknoten und politisches Zentrum.
King wollte wissen: Welche Folgen hat das für die Stadt und ihre Bevölkerung? Welche Ressourcen werden beansprucht? Gibt es Vorgaben für Enteignungen oder Eingriffe in Eigentum? Wie werden Freiheitsrechte gesichert?
Die Antworten des Senats bleiben vage. Immer wieder verweist er auf die Zuständigkeit des Bundes und die „Einstufungsvorgaben“ des Plans. So heißt es etwa lapidar: „Hinsichtlich der konkreten Art und Ausgestaltung bestehender Abstimmungen im Kontext des OPLAN DEU können mit Blick auf die Einstufungsvorgaben durch den Bund keine Angaben im Kontext einer schriftlichen Anfrage gemacht werden.“
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Besonders heikel sind Kings Fragen zu möglichen Eingriffen in Eigentumsrechte. Der Senat bestätigt, dass im Spannungs- oder Verteidigungsfall auf Privateigentum zugegriffen werden kann – und verweist auf das Bundesleistungsgesetz sowie das Schutzbereichsgesetz. Damit können Fahrzeuge, Immobilien oder Flächen beschlagnahmt werden, auch Wohnraum könnte für Truppen genutzt werden.
Der Senat schreibt: „Verfahren zur militärischen Nutzung von Privateigentum sowie enteignende Eingriffe sind insbesondere im Bundesleistungsgesetz, Schutzbereichsgesetz und Landesbeschaffungsgesetz geregelt. Diese enthalten zudem die entsprechenden Entschädigungsregelungen sowie Regelungen über Befristung und Rückgabe.“
Auf Kings Nachfrage, ob es eine inhaltliche Abstimmung zwischen der geplanten Berliner Rahmengesetzgebung zur Vergesellschaftung von Eigentum und den Anforderungen des OPLAN gibt, blieb die Antwort jedoch aus.
„Wer jetzt gedacht hat: Endlich wird die Umsetzung des erfolgreichen Volksentscheids ‚Deutsche Wohnen und Co. enteignen‘ in Angriff genommen, wurde schnell enttäuscht. Das ist keineswegs vorgesehen“, kommentiert King gegenüber der Berliner Zeitung. Und auch sonst erfahre man wenig darüber, wozu dieses Rahmengesetz dienen solle, denn der Senat betone bei jeder Gelegenheit, dass es eigentlich gar nicht zur Anwendung kommen solle, sagt King. „Ist es also nur ein Placebo, das die Luft aus der Diskussion um den Volksentscheid nehmen soll? Vielleicht. Möglich ist meines Erachtens aber auch ein Zusammenhang mit dem Operationsplan Deutschland. Auf meine diesbezügliche Frage habe ich leider keine Antwort vom Senat erhalten.“
Schutzräume? Fehlanzeige in Berlin
Besonders drastisch zeigt sich die Lage beim Zivilschutz. King fragte nach der Zahl einsatzbereiter Bunkeranlagen für die Bevölkerung. Das Ergebnis: In Berlin gibt es keine funktionsfähigen Schutzräume mehr.
„Das öffentliche Schutzraum-Konzept wurde eingestellt. Die funktionale Erhaltung der Schutzräume wurde nach einer Entscheidung im Jahr 2007 beendet. Der Rückbau begann 2008. Im Land Berlin existieren derzeit keine einsatzbereiten Bunkeranlagen“, so die Antwort des Senats.
Stattdessen soll nun geprüft werden, ob U-Bahn-Stationen und Bahnhöfe zu Notunterkünften ertüchtigt werden. Eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe wurde eingerichtet – konkrete Ergebnisse gibt es aber noch nicht. Das bedeutet im Klartext: Im Ernstfall müssten Berliner dort Schutz suchen, wo sie heute zur Arbeit fahren – in den Tunneln und Schächten der U-Bahn. Stationen wie Alexanderplatz oder Gesundbrunnen könnten sich von Verkehrsknotenpunkten in improvisierte Bunker verwandeln.
„Das Land Berlin soll nun Bahnhöfe und U-Bahn-Stationen in diesem Sinne ertüchtigen, um Abhilfe zu schaffen. Für mich wäre das eher ein Grund mehr, sich aktiv um Frieden zu bemühen, anstatt sich mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen auf die militärische Eskalation vorzubereiten“, so King.
Auch im Bereich Gesundheit und Infrastruktur drängen sich Fragen auf. Schon heute gibt es laut Bundeswehr Pläne, zivile Krankenhäuser im Rahmen der „Zivilen Verteidigung“ einzubinden – für die Versorgung von Verwundeten, aber auch für militärische Bedarfe. King wollte wissen, welche Berliner Kliniken betroffen sind. Der Senat antwortet ausweichend, verweist auf die Zuständigkeit des Bundes.
Was das bedeutet, lässt sich ausmalen: Bereits heute überlastete Berliner Krankenhäuser, in denen nicht nur Unfallopfer und Schlaganfallpatienten behandelt werden, sondern auch verletzte Soldaten aus einem möglichen Kriegseinsatz. Operationssäle im Dauerbetrieb, Notfallbetten auf den Gängen, Personal, das zwischen Zivilbevölkerung und Militärversorgung aufgerieben wird.
Ähnlich bei der Verkehrsinfrastruktur: Autobahnen, Bahnhöfe, Brücken müssten ertüchtigt werden, um Panzertransporte zu ermöglichen. Auch hier verweist der Senat auf den Bund. Die Kosten für Berlin sind unklar – könnten aber gigantisch sein.
Im dritten Teil seiner Anfrage ging King auf mögliche Verpflichtungen für die Bevölkerung ein. Seine Fragen: Soll eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt werden? Werden Reservisten einberufen? Müssen Menschen mit Schlüsselqualifikationen zwangsweise eingesetzt werden?
Die Antwort des Senats: Nicht zuständig, alles Sache des Bundes. Für King ist klar: „Dass der Senat sich in seiner Antwort auf die Zuständigkeit des Bundes und die Geheimhaltungsstufe zurückzieht und keinen Millimeter in die Ebenen-übergreifenden Absprachen blicken lässt, ist nicht gerade vertrauenerweckend. Insofern besteht das Problem darin, dass wir als Bürger und Abgeordnete einen ganz maßgeblichen Teil der Hintergründe für bestimmte Maßnahmen und Planungen in Berlin nicht mehr nachvollziehen dürfen. Das ist ein Problem für die parlamentarische Kontrolle, auch für die Haushaltskontrolle, denn wir Parlamentarier dürfen ja weder den Operationsplan noch nachgelagerte Pläne einsehen.“
Geheime Pläne, offene Fragen
Fakt ist: Im Kriegs- oder Spannungsfall würde Berlin eine zentrale Rolle spielen – als politisches Zentrum, als logistischer Knotenpunkt, als Zufluchtsort für Verwundete und Flüchtlinge. Doch die Berliner und ihre Vertreter im Abgeordnetenhaus wissen kaum, was das konkret für sie bedeutet.