Der andere Blick
von Malte Fischer

Deutschland muss seinen Sozialstaat schrumpfen, damit die Wirtschaft wieder wachsen kann

Der Sozialstaat ist zur grössten Wachstumsbremse in Deutschland geworden. Er ist zu teuer und schmälert die Leistungsanreize. Ohne radikale Reformen ist er wegen der demografischen Entwicklung bald nicht mehr finanzierbar.

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Arbeitsministerin Bärbel Bas will den Sozialstaat gegen Kürzungspläne verteidigen.

Arbeitsministerin Bärbel Bas will den Sozialstaat gegen Kürzungspläne verteidigen.

Revierfoto / Imago

Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick am Morgen», heute von Malte Fischer, Wirtschaftsredaktor NZZ Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.

Gesellschaften brauchen ein identitätsstiftendes Narrativ, das sie zusammenhält. In Deutschland ist es der Sozialstaat, der dieses Narrativ liefert. Er ist das goldene Kalb, um das die Gesellschaft tanzt. Der Sozialstaat gilt den Deutschen als Garant für gesellschaftliche Solidarität, als Fels in der Brandung einer von Egoismen und Gewinnstreben dominierten Wirtschaftswelt.

Bei der sozialen Marktwirtschaft war den Deutschen das Adjektiv «sozial» daher immer wichtiger als die Marktwirtschaft, die es beschreibt und zugleich relativiert. Besonders ausgeprägt ist der Glaube an die Segen stiftende Wirkung des Sozialstaats in der SPD. Die Partei versteht sich als Schutzmacht der Zu-kurz-Gekommenen und als Lordsiegelbewahrerin sozialstaatlicher Rundum-Fürsorge. Den Sozialstaat zu verteidigen, gehört zur DNA der Sozialdemokraten.

Das dürfte wieder einmal deutlich werden, wenn die Politiker der schwarz-roten Koalition an diesem Mittwoch im Koalitionsausschuss zusammenkommen, um über den weiteren Kurs der Regierung und die Reform des Sozialstaats zu beraten.

Grenze des Verhandelbaren

Arbeitsministerin Bärbel Bas von der SPD hat bereits die Linien gezeichnet, die für die Sozialdemokraten die Grenze des Verhandelbaren markieren. Die Behauptung von Bundeskanzler Friedrich Merz, Deutschland könne sich wegen der Wachstumsschwäche seiner Wirtschaft den Sozialstaat bisheriger Prägung nicht mehr leisten, geisselte Bas jüngst als «Bullshit».

Deutschland sei ein reiches Land, deshalb sei es falsch, die soziale Sicherung zu streichen, sagt Bas. Statt den Rotstift kreisen zu lassen, müsse die Regierung «gemeinsam für mehr Wachstum arbeiten». Das sei «der richtige Weg».

Richtig ist, dass der Sozialstaat ohne eine wachsende Wirtschaft vertrocknet wie eine Blume ohne Wasser. Nur wenn die Wirtschaft wächst, entsteht Wohlstand. Und nur wenn Wohlstand entsteht, ist ein Sozialstaat finanzierbar.

Der Sozialstaat ist zur Wachstumsbremse geworden

Das Problem ist, dass der Sozialstaat in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten selbst zur grössten Wachstumsbremse geworden ist. Mehr als 1300 Milliarden Euro flossen im vergangenen Jahr in staatliche Sozialleistungen, das waren 31,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Im nächsten Jahr gehen knapp 38 Prozent des Bundeshaushalts allein für das Ressort Arbeit und Soziales drauf, das Bärbel Bas verwaltet.

Um die Sozialleistungen zu finanzieren, greift der Staat den Bürgern tief ins Portemonnaie. Die Steuerlast in Deutschland ist so hoch wie in kaum einem anderen Land in Europa. Und die Sozialabgaben haben mit über 40 Prozent ein die Leistung sedierendes Niveau erreicht. Ohne Reformen – und das heisst Einschnitte auf der Ausgabenseite des Sozialstaats – werden die Abgaben in den nächsten Jahren ungebremst auf die Marke von 50 Prozent zusteuern.

Die Alterspyramide kippt

Dafür sorgt allein schon die Demografie. Teilten sich 1957 knapp vier Erwerbstätige die Finanzierung eines Rentners, sind es derzeit nur noch zwei Erwerbstätige, die für einen Rentner aufkommen müssen. Dass die Jungen bereit sind, die absehbar weiter steigende demografische Last zu stemmen, gehört zu den Lebenslügen all jener Politiker, die sich mit wahltaktischem Blick auf die Mehrheitsverhältnisse die Wahrung der Besitzstände der Älteren auf die Fahne geschrieben haben.

Sagen die Jüngeren, allen voran die Leistungsträger, wegen der erdrückenden Finanzierungslast dem Standort Deutschland Ade, ist der Sozialstaat nicht mehr zu retten. Denn es sind die Schultern der jüngeren, gut ausgebildeten und produktiven Menschen, auf denen er ruht. Überfordert er sie, stehen sie ihm als Stützen nicht mehr zur Verfügung.

Das sollten die Sozialstaatsapologeten aller Parteien bedenken, die sich mit Händen und Füssen dagegen wehren, die Sozialleistungen auf ein tragbares Mass zurückzustutzen, sei es durch längeres Arbeiten, Kürzungen bei Pflege und Bürgergeld oder durch mehr Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen.

Deutschland muss angesichts der kippenden Alterspyramide und der Masseneinwanderung in den Sozialstaat sein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell neu austarieren. Dazu gehört, die Ansprüche an den Sozialstaat und damit an die Mitbürger zurückzufahren.

Die Bundesregierung hat es in der Hand, ob sie es bei ein paar kosmetischen Reförmchen belässt und damit den Kollaps des Sozialstaats in wenigen Jahren in Kauf nimmt. Oder ob sie einen radikalen Kurswechsel einleitet, der zunächst schmerzhaft ist, langfristig aber die Basis für mehr Wachstum und neuen Wohlstand schafft.

30 Kommentare
Urs Keiser

Das gleiche gilt auch für die Schweiz!

Veit Jakof

Um auf den letzten Absatz zurückzukommen: Wollen wir wetten das die Regierung "es bei ein paar kosmetischen Reförmchen belässt"!? Todsicher, Union ind SPD machen weiter wie gehabt. Abwählen ist das Einzige was hilft!